Gaby Barg

Autorin und Texterin Gaby Barg


 




Leseproben
 













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In der Trauer um meinen Sohn hätte ich beinahe auch meine kleine Tochter verloren!

Der Tag, an dem ich meinen Sohn verlor, hatte so fröhlich begonnen, dass ich mich noch an jede einzelne Minute erinnern kann. Es war ein herrlich sonniger warmer Montag im Frühling, es war Tobias' 16. Geburtstag und er schnappte fast über vor Freude, als mein Mann Wolfgang, unsere neunjährige Tochter Sandra und ich mit ihm in die Garage gingen und er dort sein heiß ersehntes Mofa entdeckte, mit einer dicken roten Schleife dekoriert und vielen kleinen roten Papierherzen, die Sandra für ihn ausgeschnitten und mit einem Bindfaden zu einer Girlande gebunden hatte.

"Mann, das ist das coolste Geburtstagsgeschenk meines Lebens!" jubelte er. Wolfgang lachte, aber dann nahm er Tobias mit ernster Miene in den Arm.

"Kumpel, ich hoffe, du weißt, dass ein Mofa-Führerschein noch keinen erfahrenen Fahrer macht", sagte mein Mann eindringlich, "Mama und ich möchten deshalb, dass du am Anfang erst mal langsam fährst und dich mit dem Mofa vertraut machst." Tobias nickte ernsthaft, dann fing er an zu grinsen.

"Klar, Paps", versicherte er mit treuherzigem Augenaufschlag, "die ersten hundert Kilometer schieb ich das Mofa erst mal mit den Füßen, damit ich Fahrpraxis krieg und Mama nicht jedes Mal einen halben Herzinfarkt bekommt, wenn sie eine Polizeisirene hört!" Wolfgang gab ihm einen scherzhaften Klaps auf den Hinterkopf und ich schüttelte seufzend den Kopf, aber in unserem tiefsten Herzen wussten wir beide, dass wir unserem Sohn blind vertrauen konnten.

Während Tobias' Schulkameraden ihre Eltern mit pubertären Kriegserklärungen fast zur Verzweiflung brachten, war unser Sohn mit seiner fröhlichen, hilfsbereiten Art und seinen tollen schulischen Leistungen ein wahrer Sonnenschein. Unsere kleine Sandra mit ihren dunklen Haaren, dem runden Gesichtchen und ihrer stillen, schüchternen Art war ein herrlicher Kontrast zu unserem semmelblonden lebhaften Sohn, aber trotzdem - oder gerade deswegen - hingen die beiden mit inniger Liebe aneinander.

Wir liebten und vertrauten einander vorbehaltlos und deshalb konnten wir uns auch jetzt voll auf unseren Sohn verlassen, aber trotzdem beschlich mich ein ungutes Gefühl, als Tobias eine halbe Stunde später dem mit Sandra davonfahrenden Schulbus lachend eine lange Nase machte und mit seinem neuen Mofa abbrauste. Ich schimpfte mich innerlich eine Glucke und machte mich seufzend an die Hausarbeit. Tobias hatte für diesen Nachmittag einen ganzen Haufen Freunde eingeladen und so war ich den ganzen Vormittag mit dem Schmücken unseres Partyraums und Kuchen backen beschäftigt.

Ich hatte gerade den letzten Sahnetupfer auf die Geburtstagstorte gesetzt, als es an der Tür klingelte. Überrascht sah ich auf die Uhr. Mein Gott, es war schon fast halb zwei und ich hatte noch nicht mal das Mittagessen vorbereitet! Da es noch ein bisschen früh für den Schulbus war, konnte das eigentlich nur Tobias sein, der da klingelte. Lächelnd nahm ich die Torte hoch, lief damit in den Flur und öffnete schwungvoll die Haustür.

"Gerade bin ich mit deiner Torte fertig geworden!" rief ich lachend - und dann sah ich sie. Zwei Polizisten, die mit betroffenen Gesichtern ihre Schirmmützen zwischen den Händen drehten. Sie standen einfach nur da und starrten auf die Torte mit der großen "16" in der Mitte.

"Mein Gott," sagte der eine leise, "es tut mir so leid!" Mein Kopf begann sich zu bewegen. Links, rechts, links, rechts. Nein, bitte nicht. Ich schüttelte wie eine Marionette den Kopf.

"Nein," flüsterte ich, "nein." Und immer wieder "nein". Ich ließ die Hand mit der Tortenplatte sinken und registrierte wie durch Watte das Klirren auf den Fliesen.

"Frau Gerstner, Sie müssen jetzt ganz tapfer sein, Ihr Sohn ist verunglückt." Was sagte er da? Tobias? Nein. Nein! Nein, das durfte nicht sein. Nicht Tobias. Nicht mein Kind. Ein hohes Wimmern stieg in meiner Kehle auf und wurde immer lauter. Ich wehrte mich, wehrte mich mit Händen und Füßen gegen die Wahrheit und diesen grässlichen Schmerz, der in mir aufstieg und mich fast erstickte, ich fing an um mich zu schlagen und gellend um Hilfe zu schreien. Jemand nahm mich in die Arme und hielt mich fest und ich schrie, schrie meine ganze Qual gegen diese fremde Brust. Dann wurde es dunkel um mich.

Schmerz, unendlicher Schmerz und eine tiefe, lähmende Leere, das war alles, was ich in den nächsten Stunden und Tagen spürte. Während der von den Polizisten herbeigerufene Notarzt mir eine Beruhigungsspritze gab, kam Sandra nach Hause. Wie durch einen dumpfen, schwarzen Schleier hörte ich ihr gequältes Weinen, sah ihre zitternde, kleine Gestalt mit wachsbleichem Gesicht in der Tür stehen, sah sie genau so unablässig den Kopf schütteln wie ich es getan hatte, als ich die schreckliche Wahrheit begriff. Ich wollte sie zu mir rufen, sie trösten, aber ich hatte nicht die Kraft, lag einfach nur da und starrte sie an.

Irgendwann beugte sich Wolfgangs bleiches, verweintes Gesicht über mich, ich fühlte seine Arme, die mich umschlangen, seinen vom Schluchzen geschüttelten Körper ganz dicht bei mir, dann endlich wirkte die Spritze und eine dunkle, tröstende Wolke hüllte mich ein.

Wolfgang musste Tobias' Beerdigung ganz alleine organisieren, denn ich war zu keinem klaren Gedanken fähig. So oft es ging, verkroch ich mich in meinem Bett, nahm Unmengen von Beruhigungs- und Schlaftabletten und lief zwischendurch ziel- und ruhelos durch das Haus. Sandra war für eine Woche von der Schule befreit. Erst hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so wenig um sie kümmerte, aber dann stellte ich erleichtert fest, dass sie den Tod ihres Bruders offensichtlich wesentlich besser verkraftete als Wolfgang und ich. Fast den ganzen Tag saß sie in ihrem Zimmer und sah fern, malte oder spielte still mit ihren Puppen. Weinen sah ich sie nie. Auch meine Schwester bestärkte mich darin, mich erst einmal um mich selbst zu kümmern.

"Mach dir keine Sorgen um die Kleine", sagte sie tröstend, "Kinder in diesem Alter begreifen doch noch gar nicht richtig, was der Tod wirklich bedeutet und sie vergessen so was auch viel schneller als wir Erwachsenen. Komm du erst mal selbst wieder auf die Beine, Kerstin. Sandra kriegt das schon hin, das ist eine tapfere kleine Maus." Und ich glaubte ihr, weil ich ihr glauben wollte, weil ich einfach all meine Kraft für mich selber brauchte.

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, aber die Zeit kennt nicht den Schmerz einer Mutter, die ihr Kind verliert. Ich hatte wahnsinnige Schuldgefühle, weil wir Tobias das Mofa geschenkt hatten und weil er ohne dieses Geburtstagsgeschenk noch am Leben wäre. Es half mir nicht, dass die Polizei uns versicherte, dass Tobias an diesem Unfall absolut keine Schuld gehabt hatte. Ein LKW-Fahrer hatte ihn in einer Kurve übersehen und gestreift, wobei Tobias stürzte und mit seinem Mofa unter die Hinterräder geriet. Er war sofort tot, hatte nicht leiden müssen, aber auch das half mir nicht über die Trauer hinweg. Wolfgang versuchte mich zu trösten so gut er konnte, redete immer wieder auf mich ein, dass das Leben weitergehen musste, dass Sandra und er mich brauchten, aber schließlich schien er es aufzugeben. Er zog sich von mir zurück, vergrub sich immer mehr in seiner Arbeit und bastelte abends stundenlang in seinem Hobbykeller.

So sehr ich mich auch bemühte, in den Alltag zurückzufinden, ich schaffte es einfach nicht. Wie eine Maschine erledigte ich meine Hausarbeiten, ging einkaufen, kochte, schuftete bis zur Erschöpfung im Garten, saß stundenlang weinend in Tobias' Zimmer und fiel abends wie ausgelaugt in mein Bett und weinte mich in den Schlaf.

Früher hatte ich mit Sandra, die sich im Gegensatz zu Tobias mit der Schule ein bisschen schwer tat, jeden Mittag über ihren Hausaufgaben und Übungsaufgaben gesessen, aber jetzt saß sie lieber allein an ihrem kleinen Schreibtisch und lernte fleißiger als je zuvor. Ein paar Mal fragte ich sie, ob ich ihr nicht helfen sollte, aber sie schüttelte nur den Kopf.

"Nein, lass mal, Mami, ich mach das schon", sagte sie zaghaft lächelnd, "dir geht's doch nicht so gut und ich schaff' das schon alleine!" Und wieder verkroch ich mich in Tobias' Zimmer, vergrub mein Gesicht in seinem alten Lieblingspullover und war froh, mich ungestört meiner Trauer hingeben zu können.

Manchmal schlich sich auch Sandra in Tobias' Zimmer. Ein paar Mal ertappte ich sie dabei, wie sie gedankenverloren auf dem Boden saß, seine alten Spielsachen um sich herum ausgebreitet, die er extra aufgehoben hatte, um damit mit ihr zu spielen. Aber ich wollte nicht, dass sie seine Sachen anfasste, ich wollte, das alles so blieb wie er es hinterlassen hatte und das sagte ich ihr auch. Und wieder lächelte sie nur und ihr kleines Stimmchen klang ganz ruhig und verständnisvoll, als sie sagte: "Klar, Mami, ich versteh das, ich geh hier nicht mehr rein."

Es war ungefähr acht Wochen nach Tobias' Tod, als ich wieder einmal völlig zusammenbrach. Ich hatte wie so oft auf Tobias' Bett gesessen und gedankenverloren in seinen Schulsachen geblättert, als ich diese große, selbst gebastelte Karte fand, die er mir wohl zum Muttertag schenken wollte. Die Buchstaben leuchtend rot umrandet und mit grellbunten Farben ausgemalt, hatte er mir ein holpriges, aber unendlich liebevolles, fröhliches Gedicht geschrieben:

"Ich hab dich furchtbar lieb, das singen selbst die Vöglein - piep. Drum hier ein Loblied, nur für dich, es reimt sich sogar (fürchterlich): Du bist die allerbeste Mutter, du hast ein Herz, so zart wie Butter, hast Wagemut, so fest wie Käse, bist sanft und weich, wie Mayonnaise, empfindsam manchmal wie Salat, und wenn's drauf ankommt knüppelhart! Und gerade deshalb lieb ich dich, dies schrieb: Dein Sohn und das bin ich."

Das war einfach zu viel, ich konnte nicht mehr! Völlig aufgelöst und laut schluchzend saß ich da und presste die Karte an mein Gesicht. Sandra kam hereingerannt, nahm mich mit erschrockenem Gesicht in die Arme, als wäre ich das Kind und sie die Mutter, streichelte mein tränennasses Gesicht und stammelte nur immer wieder "Mama, es tut mir so leid, es tut mir so leid!", während ich diesen wahnsinnigen Schmerz in mir einfach herausschrie. Dann spürte ich Wolfgangs starke Arme, die mich vom Bett hochrissen und fest umschlangen, spürte an dem Zucken seiner Schultern, dass auch er weinte.

"Mäuslein, geh bitte in dein Zimmer, ich komm gleich zu dir!" Seine Stimme klang ganz heiser, als er Sandra hinausschickte. Dann packte er mich an den Schultern und begann, mich zu schütteln. Erst ganz sachte, dann immer heftiger.

"Hör auf," rief er weinend, "hör endlich auf! Wie kannst du das der Kleinen antun, sie so als Klagemauer zu benutzen, wie kannst du nur!" Wie erstarrt stand ich da, mein lautes Weinen erstickte in einem trockenen Schluchzen. Verzweifelt wischte sich Wolfgang über sein Gesicht.

"Es tut mir leid, dass ich dich so angeschrieen habe, Liebling", sagte er leise, "aber ich komm anders überhaupt nicht mehr an dich heran! Wir trauern alle um Tobias, Kerstin, wir trauern alle! Du bist nicht die einzige hier in diesem Haus, der das Herz blutet, aber du tust, als würde der ganze Schmerz der Welt nur dir allein gehören! Es ist furchtbar, Tobias verloren zu haben, aber es ist fast noch furchtbarer, dich auch noch jeden Tag ein Stückchen mehr zu verlieren. Du siehst uns überhaupt nicht mehr, Kerstin, du hast Sandra und mich völlig aus deinem Leben ausgeschlossen! Komm doch bitte ins Leben zurück, wir vermissen dich so sehr! Und jetzt muss ich zu Sandra. Sie hat ihren Bruder verloren und du weißt, wie sehr sie an Tobias hing. Sie ist ein schrecklich trauriges kleines Mädchen, sie leidet wahnsinnig und du siehst es überhaupt nicht."

Ich fühlte mich wie versteinert, als er das Zimmer verließ und die Tür leise hinter sich schloss. Versteinert, leer, verraten. Ich hatte mein Kind verloren und jetzt sollte ich noch nicht einmal meine Trauer ausleben dürfen. Wie konnte Wolfgang nur so hart und ungerecht sein! Und was hatte er damit gemeint, dass Sandra leidet? Es war doch genau so gekommen wie meine Schwester gesagt hatte, Sandra hatte den Tod von Tobias doch schon längst überwunden! Nie sprach sie über ihn, nie weinte sie um ihn!

Als wir am nächsten Morgen am Frühstückstisch saßen, beobachtete ich Sandra aufmerksam. Ja, sie wirkte noch ein bisschen stiller als früher und aus dem kleinen Pummelchen war in den letzten Wochen ein schmächtiges Persönchen geworden, das bei den Mahlzeiten meist lustlos in ihrem Essen herumstocherte. Sie sah blass aus, aber das lag wohl daran, dass sie ständig in ihrem Zimmer saß. Gerade sagte Wolfgang etwas zu ihr und sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. Na also, das meinte ich doch: Sie konnte schon wieder lächeln, hatte Tobias' Tod längst überwunden. Kleine Kinder waren nun mal so. Vielleicht sollte ich sie mehr nach draußen zum Spielen schicken. Ich nickte still vor mich hin. Ja, alles was ihr fehlte, war ein bisschen Bewegung an der frischen Luft, dann würde sie auch mehr Appetit haben. Mein Gott, ich war ja so blind...

Der Sommer kam und mit ihm rückte Sandras zehnter Geburtstag näher. Früher hatten wir ihr stets riesige Geburtstagspartys ausgerichtet, Tobias hatte sich tausend lustige Spiele ausgedacht, war mit Sandra und ihren Freundinnen durch den Garten getollt und hatte es sichtbar genossen, von einem Haufen kleiner Mädchen angehimmelt zu werden. Der Gedanke, dass er nie mehr dabei sein würde, brachte mich fast um den Verstand. Geburtstag feiern ohne Tobias, nein, das ging einfach nicht!

"Schau, Sandra", versuchte ich das meiner Tochter zu erklären, als sie mich fragte, wen sie einladen dürfe, "Tobias ist erst seit vier Monaten tot, wir trauern alle noch so sehr und ich könnte es einfach nicht aushalten, wenn alle fröhlich herumhüpfen, obwohl unser Tobias nicht mehr bei uns ist!" Einen Augenblick schien Sandra bestürzt zu sein, aber dann nickte sie.

"Ist schon gut, Mami", sagte sie und lächelte tapfer, "ich weiß schon. Ich hab auch eigentlich gar keine Lust zu feiern!" Sie ging ein paar Schritte zur Tür, zögerte einen Augenblick und drehte sich noch einmal um.

"Darf wenigstens die Corinna kommen? Dann kann ich mit der in meinem Kinderzimmer spielen und bin nicht so allein." Gott sei Dank, das war die Lösung! Ich hatte mir schon seit Tagen den Kopf darüber zerbrochen, wie ich Sandras Geburtstag mit ihr feiern sollte, denn dass ich den Tag nicht einfach ignorieren konnte, war mir klar. Und der Tag fiel ausgerechnet auf einen Samstag, ich hätte mich also von morgens bis abends zusammenreißen müssen. Aber wenn ihre beste Freundin kam und mit ihr spielte, brauchte ich mich ja nicht weiter um sie zu kümmern - ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, Fröhlichkeit heucheln zu müssen!

"Klar", sagte ich erleichtert, "Corinna kann ruhig kommen. Ich mach' euch auch eine schöne Geburtstagstorte. Aber sonst kommt niemand, okay?" Sandra hob den Daumen und zwinkerte mir zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss. "Okay, Mami. Wir sind auch ganz leise, versprochen!"

Sandras Geburtstag war für mich einfach furchtbar. Schon beim Frühstück starrte ich immer wieder auf den leeren Stuhl neben ihr und ich vermisste meinen Sohn so maßlos, dass es mir fast das Herz zerriss. Wie fröhlich hatte dieser Tag sonst immer begonnen! Tobias hatte sich jedes Jahr einen anderen Blödsinn einfallen zu lassen, um seine heißgeliebte kleine Schwester schon morgens mit irgend etwas zu überraschen. "Partyscherze" nannte er das und trieb den ganzen Tag seinen Schabernack mit ihr. Aber an diesem Morgen war es unerträglich still an unserem Tisch.

Mit unbewegtem Gesicht packte Sandra ihre Geschenke aus, umarmte Wolfgang und mich und hauchte jedem ein artiges "Danke schön" ins Ohr. Sie pustete die Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte aus und sah mich traurig an.

"Zum ersten Mal alle auf einmal gepackt!" sagte sie leise und heiße Tränen stiegen in mir hoch. Ja, bis jetzt hatte sie es noch nie geschafft, alle Kerzen auf einmal auszublasen und die restlichen Kerzen hatte dann Tobias jedes Mal mit einem riesigen Spektakel ausgemacht.

"Schaut mal, so pustet Sandra, wie ein blinder Floh!" hatte er immer gerufen und dann ganz theatralisch links und rechts an der Kerze vorbeigepustet, bis Sandra sich vor Lachen den Bauch gehalten hatte. Mit einem verlorenen Lächeln nahm Sandra eine der Kerzen von der Torte und legte sie auf Tobias' leeren Platz.

"Für Tobi", flüsterte sie, "damit er sie im Himmel auspusten kann!" Nein, das war zu viel, das konnte ich einfach nicht aushalten! Aufschluchzend stürzte ich aus der Küche und flüchtete mich in Tobias' Zimmer. Kurz darauf stürmte Wolfgang herein, riss mich vom Bett und schüttelte mich, bis mir das Schluchzen in der Kehle stecken blieb.

"Pass auf, Kerstin", brüllte er wütend, "heute ist Sandras Geburtstag und du wirst dich gefälligst zusammenreißen, ist das klar? Sie sitzt da unten und weint, weil sie meint, sie hätte dir weh getan, dabei tust du dir immer nur selber weh! Heute ist ihr Geburtstag und ich will verdammt noch mal, dass sie ein bisschen fröhlich sein darf, hast du das verstanden?" Ich war zu Tode erschrocken. Zum ersten Mal in unserer Ehe war mein Mann grob zu mir! Als er mein verstörtes Gesicht sah, ließ er mich los und rieb sich über die Augen. "Mein Gott, entschuldige Kerstin, aber bitte, nur diesen einen Tag lass' unser kleines Mädchen endlich mal wieder lachen!"

Ich bemühte mich, ich bemühte mich wirklich. Den ganzen Vormittag versuchte ich immer wieder, mit Sandra zu scherzen und zu lächeln, obwohl meine Seele dabei weinte. Als Corinna kam und die beiden Mädchen zum Spielen in Sandras Zimmer verschwanden, ließ ich mich aufatmend in den Sessel fallen. Wolfgang beugte sich über mich und gab mir einen sanften Kuss.

"Das hast du sehr, sehr gut gemacht, Schatz", sagte er liebevoll, "ich bin stolz auf dich." Dann sah er bedauernd auf die Uhr. "Ich muss jetzt noch zu diesem blöden Geschäftstermin, aber in spätestens vier Stunden bin ich wieder da. Ruh dich ein bisschen aus, es war ein anstrengender Tag für dich!" Noch ein Kuss, dann war ich allein.

Ich musste wohl eingenickt sein, als ich von einem lautem Rattern und hellem Gekicher geweckt wurde. Einen Moment lang lauschte ich verwirrt, dann erkannte ich das ratternde Geräusch. Tobias' ferngesteuerter Jeep! Wie eine Furie rannte ich die Treppe hinauf und riss die Tür zu Tobias' Zimmer auf. Mit rot leuchtenden Gesichtern saßen die beiden Mädchen mitten im Zimmer und steuerten kichernd den Jeep über eine Landschaft, die sie aus Tobias Büchern und seiner Bettwäsche auf dem Teppich aufgebaut hatten. Ich sah, wie der Jeep gerade über eines von Tobias' Lieblingsbüchern rollte und dabei ein paar Seiten umknickte - und rastete total aus!

Ich weiß nicht mehr, was ich alles geschrieen habe. Dass die beiden sofort aus dem Zimmer verschwinden sollen, dass Sandra nie, nie wieder diesen Raum betreten soll, dass ich ihr nie verzeihen werde, dass sie Tobias Sachen so zerstört hat - ich habe einfach nur noch geschrieen! Während Corinna laut weinend an mir vorbei die Treppe hinunter stürmte, stand Sandra einfach nur da und starrte mich mit schneeweißem Gesicht an.

"Ist schon gut, Mami", stammelte sie, "ich mach's nie wieder, ich schwör's, ich mach's nie wieder!"

"Du scheinheiliges Biest", kreischte ich, "du mit deinem 'Ist schon gut, Mami'! Gar nichts ist gut, dein Bruder ist tot und du tust als wäre nichts passiert, wie kannst du nur so eiskalt sein!" Oh Gott, was tat ich da! Luft, ich brauchte Luft! Wie von Sinnen drehte ich mich um und rannte aus dem Haus.

"Es tut mir leid, Mami, es tut mir leid!" schrie Sandra hinter mir her, "Lauf doch bitte nicht weg, es tut mir so leid!"

Völlig aufgelöst irrte ich durch die Gegend. Nur langsam wurde das Chaos in mir stiller und ich begriff, was ich angerichtet hatte. Wie hatte ich nur so grausam sein können! Tobias hätte nie etwas dagegen gehabt, dass Sandra heute mit seinen Sachen gespielt hatte, er hatte sie doch extra für sie aufgehoben! Es war, als würde ich aus einem Traum erwachen. Ich sah auf die Uhr und erschrak. Mein Gott, Sandra war schon seit zwei Stunden allein zuhause, sie musste sich zu Tode fürchten!

So schnell ich konnte, lief ich nach Hause. Als ich die Tür öffnete, fiel mir sofort diese Stille auf. Als würde das Haus den Atem anhalten. Am Garderobenspiegel hing ein großer Zettel und ich konnte kaum begreifen, was ich da las.

"Liebe Mami, lieber Papa. Entschuldigung, dass ich an Tobis Sachen war. Das war gemein von mir. Es tut mir leid, dass Tobias tot ist. Ich wollte so gern für ihn tot sein, dann wärt ihr nicht so traurig, denn der Tobias war so gut in der Schule und ich bin so schlecht und mache alles falsch. Und Tobi fehlt mir so sehr. Ich geh jetzt zu ihm in den Himmel, der freut sich bestimmt und dann mache ich Mami auch keinen Kummer mehr, wenn ich aus Versehen mal lachen muss. Ich hab euch ganz doll lieb. Eure Sandra"

Ich rannte die Treppe hinauf in Sandras Zimmer - und da lag sie auf ihrem Bett, regungslos, totenbleich, inmitten von aufgerissenen Tablettenschachteln. Ohne nachzudenken riss ich den kleinen schlaffen Körper an mich, stürzte zum Auto und raste wie eine Irre ins Krankenhaus, drückte in der Notfallstation einem herbeilaufenden Arzt schluchzend und um Hilfe flehend mein Kind in den Arm und saß dann im Wartezimmer und flehte Gott um Vergebung an, bettelte um das Leben meiner kleinen Tochter, die ich in meiner egoistischen Trauer fast in den Tod getrieben hätte.

Ich danke Gott, dass ich an diesem Tag schon so bald wieder nach Hause kam, denn Sandra wurde wieder ganz gesund. Ich habe in den nächsten Tagen und Wochen oft stundenlang mit meiner kleinen Tochter geredet, sie in meine Trauer einbezogen und endlich, endlich konnte auch sie darüber sprechen, wie sehr sie ihren Bruder vermisste, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. So sehr, dass sie nicht mehr leben wollte. Und ich habe in meiner Trauer nichts davon gemerkt! Ich werde mir das nie verzeihen, aber ich werde es wieder gut machen. Tobias' Tod schmerzt noch immer, aber ich lebe wieder, ich bin meiner Tochter wieder eine liebevolle, aufmerksame Mutter und hoffe, dass die Wunden, die ich in ihre Seele geschlagen habe, bald heilen.

Ich weiß jetzt, dass ich nie wieder aufgeben darf, denn ich habe etwas gelernt, was mein ganzes Leben, Denken und Fühlen verändert hat: Wenn du dich selber aufgibt, gibst du auch die Menschen auf, die du liebst. Egal, wie groß der Schmerz in deinem Herzen auch ist, es gibt immer eine Seele, die dich braucht. Und für die es sich lohnt, weiterzuleben.

ENDE


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